Auf den vier Buchstaben der Zeit

Textauszug aus „Ichbinschonda“

‚Vielleicht hätte ich doch mit dem Kind spielen sollen!‘ dachte der Alte. Alles war jetzt so leer und so weit um ihn her, dass es ihm nun fast leid tat, dass der kleine Frech­dachs in der Kugel verschwunden war. Jetzt begriff er erst, wie erschreckend kurz das Wörtchen ZEIT tatsächlich war! Obgleich seine vier Buchstaben der Länge nach anein­ander lagen, führten sie ihn nur vier winzige Schritte über den Unergründbaren Grund. Vier winzige Schrittchen auf jenen Silbernen Reifen zu, der vielleicht hundert oder tau­send oder gar hunderttausend Schritte entfernt von ihm war! Trotzdem drängte es ihn zu jenem Reifen hin, der, außer der Goldenen Kugel, das einzig Sichtbare auf diesem Grund war.

Ratlos sah er sich um. Vielleicht war der Weg zu der Goldenen Kugel näher für ihn? Das seltsame Lied tönte noch immer von dort zu ihm hin! Aber sonst? Was erwartete ihn dort schon? Ein übermütiges Kind, mit dem nichts anzufangen war und ein Latern­chen, das viel zu klein, zu schlicht und zu bewegt für ihn war!

Nein – nein! Er musste schon in die Ferne hinaus! Dort harrte sein Stab und sein Licht und sein Haus – der Frieden des Eswareinmal und tausend Freuden ohne Zahl! Was er dort droben nicht gefunden, in jenem Reif war’s eingewunden – in jenen ungeheuren Weiten! Er musst nur mutig sie umschreiten! Und sei es auf dem Wörtchen ZEIT! Er zwang ihm ab die Ewigkeit! So dachte der Alte Eswareinmal und wagte sich zum zweiten Mal in die trügerische Ferne hinaus.

Zu diesem Zweck richtete er sich nun zunächst einmal vorsichtig, sehr vorsichtig auf. Richtete sich auf auf dem Buchstaben T, an den er sich geklammert hatte und machte seinen ersten Schritt hinüber auf den Buchstaben I. Dann drehte er sich vorsichtig um, nahm den Buchstaben T auf, klemmte ihn unter den Arm und tastete sich weiter vor auf den Buchstaben E.

‚Wie kurz ist doch die Zeit!‘ dachte er, als er nur noch den Buchstaben Z vor sich sah – blickte auf den Reifen, der immer noch in gleicher Ent­fernung von ihm lag und griff nach dem Buchstaben I. Als er diesen eingesammelt hatte, kletterte er auf den Buchstaben Z, nahm das E auf und legte von den drei Buch­staben, die er nun unter dem Arm hatte, den Buchstaben E auf der anderen Seite des Buchstaben Z wieder hin. So ging es fort! Nach dem E kam das I, nach diesem wieder das T und dann wieder das I.

Er wandte sich vor und zurück und geriet immer mehr in Unruhe dabei. Denn seltsam, so oft er auch die Buchstaben einsammelte und nach vorne legte, der Zwischenraum zwischen ihm und dem Silbernen Reifen schien kein bisschen kürzer zu werden dadurch! Und das, obgleich es ihm war, als machten sich die Buchstaben mehr und mehr selbständig und liefen ihm immer schneller davon.

Da war er in eine schlimme Lage geraten, der Alte Eswareinmal! Einerseits hätte er am liebsten ‚Halt!‘ gerufen, ‚halt, halt!‘, als er die Buchstaben in so atemberaubender Geschwindigkeit um sich herumwirbeln sah – andererseits trieb er sich zu immer beängstigender Geschwindigkeit an! Sein Atem keuchte, sein Pulsschlag überschlug sich, und in seinem Kopf hämmerte pausenlos derselbe Gedanke:

‚Die Zeit ist kurz, der Weg ist weit!

Sie läuft mir weg, Du liebe Zeit!
Sie wird mir vor der Zeit entfliehn!
Muss schneller, schneller vorwärts ziehn!
In Angst und Hast vergeht die Zeit!
Und mit ihr auch die Ewigkeit!
Und mit ihr auch die Ewigkeit!
und mit ihr auch die Ewigkeit!‘

Der arme Alte und die Buchstaben waren gar nicht mehr zu unterscheiden voneinan­der. Genau auf halbem Wege zwischen der Goldenen Kugel und dem Silbernen Reifen wirbelten sie umeinander herum und kamen nicht vom Fleck. Wie ein Kreisel, der durchgedreht war! Ein Kreisel sinnlos vergeudeter Lebenskraft.

Als den Alten dann endlich diese Kraft verließ, und er auf dem Buchstaben T ganz unversehens zur Ruhe kam, da stand auch die Zeit wieder still. Nur aus der Goldenen Kugel klang noch immer, ganz leise, ganz leise, das Lied des Kindes durch den Raum:

„Zeit – Zeit – Ewigkeit! –

Leben, wirken stets zu zweit!
Läufst Du einem hinterher
über das Bewegungsmeer
kommst Du keinem jemals nah –
rastlos zwischen Hier und Da!
Zeit – Zeit – Ewigkeit!“

Dann war es ganz still. Auf dem Unergründbaren Grund aber schaukelte die Zeit ‚Es war einmal‘ vergessen vor sich hin.