Keine Zeit = Ewigkeit

Textauszug aus „Ichbinschonda“

Als der Alte Eswareinmal wieder zu sich kam, fand er sich in dem großen Spiegelsaal wieder, in dem er schon einmal gewesen war. Er erkannte ihn an der Goldenen Kugel, die offenbar das einzige war, was von diesem Saal übrig geblieben war. Da waren kein Fußboden, keine Kuppel, keine Spiegelbilder mehr. Nur ein Reif, der spannte sich in weitem Bogen um die Kugel herum.

Während sich nun der Alte noch so umschaute und die Stille, Ruhe und Leere in sich und um sich herum wie einen wohltuenden Nachklang empfand, fing, ganz allmäh­lich, ganz allmählich, alles wieder von vorne an: Der goldene Glanz der Kugel ver­sank und heraus trat ein Kind. Es trug einen Stab mit einer Laterne aus regenbogenfar­benen Papierschlangen, es trug einen Zündstab und eine Genehmigung in der Hand. Und während es sie trug, waren mit einem Mal Sorge und Betrübnis, Hoffnung, Begeh­ren und Ungeduld, Erinnerungen, Verbitterungen und Wünsche wieder da. War sie wieder da, die ganze dumme Welt des Alten Eswareinmal.

Nur das Kind merkte offensichtlich nichts davon. Es steckte den Stab vor sich in den Unergründbaren Grund, rollte die Genehmigung ab, streute ihre sieben hoch sieben Millionen hoch sieben hoch sieben Millionen farbigen Formeln und Buchstaben zu einem Teppich aus, rollte die leeren Papierschlangen wieder um das Zündlicht herum und trieb dann das wieder zusammengesetzte, farblos gewordene Laternchen mit flinken Drehbewegungen über den Teppich hin. Der Alte erkannte staunend, dass die Laterne des Kindes zugleich ein Kreisel war. Er erinnerte sich sogar, dass er einen ähnlichen Kreisel schon irgendwo gesehen hatte. Nur einen viel größeren und mächti­geren, aber ebenso schönen wie diesen, einen regenbogenfarbenen. Aber er hätte nicht mehr sagen können, wo das gewesen war.

Während er noch darüber nachdachte, hüpfte das Kind sorglos herum und handhabte seinen Kreisel mit großer Geschicklichkeit. Manchmal steckte es den Stab hinein, manchmal zog es ihn heraus, ließ das Laternchen auf seiner Spitze tanzen, warf es hoch oder wirbelte es um sich herum, als ob es selber ein Kreisel wäre.

Es war so vertieft in sein Spiel, als sei der Alte gar nicht da. Ganz unvermittelt kam es aber dann doch auf ihn zu, sprang um ihn herum und rief: „Komm! Spiel mit mir!“

Der Alte Eswareinmal fand das alles wohl verwunderlich, saß aber so träge auf dem Teppich seiner Erinnerungen, fühlte sich so abwesend, schwer und einfallslos, dass ihm schon der Gedanke an Spielen unmöglich war. Er schüttelte nur den Kopf und sagte:

„Ich habe keine Zeit!“

Er sagte nicht: Ich habe keine Lust zum Spielen, es macht mir keinen Spaß, ich fühle mich zu alt dazu. Er dachte: ‚Ich habe Wichtigeres zu tun!‘ Und sagte:

„Ich habe keine Zeit!“

Seltsamerweise aber schien das Kind doch Gefallen zu finden an dem, was er sagte, denn es klatschte in die Hände und rief: „Das trifft sich gut! Auch ich habe keine Zeit! Da haben wir beide unendlich viel davon!“ Und es fasste den Alten sogleich am Arm, um ihn mit sich zu ziehen.

Der Alte aber verbesserte sich schnell: „Ich habe Wichtigeres zu tun!“ sagte er nun. „Ich habe Wichtigeres zu tun!“ Und blieb unbewegt auf seinem Platz.

„Wichtigeres?“ fragte das Kind.

„Ich muss meinen Zündstab suchen und meine Genehmigung!“ erklärte er endlich in bedeutsamem Ton.

Das Kind drehte seinen Kreisel kichernd auf der Stelle. Nur die Papierschlangen kreisten noch lautlos um das Lichtchen herum. „So einen Zündstab und so eine Genehmigung wie diese hier?“ fragte es und fügte wie beiläufig hinzu: „Wenn es weiter nichts ist? Ich schenke sie Dir!“

Mit jäh aufblitzenden Augen sah der Alte auf das Laternchen hin: „Dei … Deinen Zündstab und Deine Genehmigung -“ stotterte er fassungslos – „Dein ganzes Latern­chen willst Du mir einfach so schenken?“ Dann schien er sich jedoch eines anderen zu besinnen und fügte beinahe fordernd hinzu: „Wenn Du es mir wirklich schenken willst, Dein Laternchen, so musst Du es aber vor­her anhalten und wieder mit Buchstaben füllen! So leer und bewegt taugt es mir nichts!“

Das Kind indessen fuhr fort, seinen Kreisel auf der Stelle zu drehen, als hätte es nicht gehört, was er sprach. Und da es ihm nicht mehr antwortete, wanderte der Blick des alten Laternenanzünders bald wieder über den weiten, bunten Teppich hin – hinüber zu dem glänzenden Reif, der seine Begrenzung war – hinüber zum Sowirdessein und Eswareinmal – traurig, sehnsuchtsvoll, schwärmerisch und voller rückläufiger Taten­kraft. Er seufzte tief: „Mein Licht, so glaub ich, muss ich suchen, wo jene Formeln sich verbuchen im Teppich der Erinnerung. Dort war ich Freund von Alt und Jung und vielen tausend Kinderlein. So soll’s in Zukunft wieder sein!“

Da sagte das Kind schlicht:

„Hier gibt es nur ein Kind in Dir –
und das bin ich! Drum spiel mit mir!“

Als es aber merkte, dass der Alte unablässig weiter nach dem Silbernen Reifen sah, fuhr es schließlich fort, über den Teppich zu hüpfen und seinen Kreisel zu drehen. Dabei rollte es nun, wie zufällig, all die Formeln und Buchstaben wieder in seinen Kreisel hinein, die es zuvor hatte herausfallen lassen – rollte sie wieder hinein und sang ein eigenartiges Lied:

„Keine Zeit – keine Zeit?

Meinst wohl – keine Ewigkeit!

Ruhlos streift das große Heer
falscher Worte übers Meer.
Strebt im dummen Widersinn
immer nur woanders hin.
Liegt bereit – liegt bereit
alles längst im Zeitvertreib!

Alles ist doch wunderschön!
Auch die Zeit!

Man muss sie sehn,
wie sie auf bewegtem Grund
ihre Melodien summt –
muss sie lieben und verstehn.
Stets bereit – stets bereit,
stets bereit zum Zeitvertreib!

Heute nicht – morgen ja!
Jeder schiebt von Jahr zu Jahr
seine Träume vor sich her,
als ob das das Leben wär.
Ist im Jetzt doch alles da!
Längst bereit – längst bereit,
längst bereit zum Zeitvertreib!

Ewigkeit – Ewigkeit!
Auf Dir schwimmt der Ring der Zeit
wie ein Traum vom Leben hin.
Gründet spielend seinen Sinn.“