Der weiße Same Morgentränes

Zwischen Meer und Mehr

So pflückte er nun
Morgenträne aus den Samen
der Himmlischen Glockenblume heraus.
Es war einer der drei Samen, die ohne Zahlen waren
und von denen es jeweils nur einen gab. Es war der weiße Same!.

‚Der
weiße Same
ist der Same der
Weisung und Weisheit!‘
– erklärte das Schäfchen –
‚Du hättest keinen passenderen
für Morgenträne auswählen können!

Es ist der Same des ungetrübten Wissens,
das in jedem kleinsten und größten Wesen wohnt.
Ein Wissen, das sich aus dem Dunst des Vergessens
wieder ins Licht heben möchte
– das wiedergeboren werden möchte in einen Neuen Tag hinein! –
Nur – Morgentränen können es vermitteln – und
– Du und ich!‘ –

‚Damit willst Du wohl sagen, dass die ganze weite Welt zwischen Himmel
und Erde in ihrem tiefsten Werde nur aus Morgentränen, Schäfchenwolken
und Sonnenaugen besteht, aus …T r o p f e n … die sich in dem riesigen Meer
jenes Wissens zusammengefunden haben wie Samen in einem Blütenkelch?

Das
ist beachtlich!
Das ist ein Grund mehr
große Achtung vor uns dreien zu haben!‘
ulkte Sonnenauge und klopfte dabei anerkennend
auf seinen dicken Tautropfenbauch.
‚Wobei dieser eine Grund
‚mehr‘
auch alles blitzartig verändern
kann!‘ ulkte das Schäfchen zurück.

‚Dabei wird dann

– ehe so ein kleiner Tropfen es sich versieht –
durch die Vertauschung von zwei winzigkleinen Buchstaben

aus dem Meer des Wissens
das Mehr des Unwissens!

Und dann gibt es
– anstelle der Sonnenaugen, Morgentränen und Schäfchenwolken –
blitzplötzlich
nur noch Graue Wichte und Gewitterwolken auf der Welt
– Wichte und Wolken –
die sich auf die sonderbarste Weise gebären und
– vermehren –
obgleich sie doch durch und durch entbehrlich wären!‘

So hatten sie ihren Spaß miteinander!
Aber hinter dem Spaß stand
doch wieder die Frage,
die Sonnenauge
im Innersten
bewegte:

Da tauschten zwei winzigkleine Buchstaben ihren Platz, und
schon wurde eine Täuschung und Enttäuschung aus dem,
was zunächst nur ein liebevoller Tausch
und auf so beachtliche Weise eins gewesen war!
Wie kam es nur, dass so etwas möglich war?

‚Dieses
H
hat aus dem Vorentwurf
den Zer(r)wurf und Verwurf gemacht‘
– überlegte Sonnenauge –
‚Es hat es vom E zum H und vom H zum I gebracht:
Es ist vom Vergess’meinnicht zum Vergissmeinnicht geworden
– vom Meer zum Mehr –
vom Genügen zum Ungenügen!
Warum – aber – warum ist das
geschehen?


Warum
mussten die beiden – ‚E’s – auseinander gehen?

Vielleicht
konnten sie nicht einfach mit sich einverstanden sein,
solange sie sich nicht auch als Zweifaches verstanden hatten
– als – Gesondert-Besonderes – als –
E und H
– weil das so absonderlich anders war? –
Und
so spielten sie zunächst nur, weil es ihnen Spaß machte, zu spielen:
Weil es ihnen Spaß machte,
sich auszutauschen, zu verwandeln und auszuprobieren.
Weil sie sich ganz einfach als Wunder sahen
– voller Möglichkeiten, sich zu suchen und zu versuchen! –
Weil sie so einfalls- und ausfallsreich waren
beim Selbst Erfahren
zwischen dem H und dem E!
und so nah am
W
E
H
in diesem Spiel
zwischen
HIMMEL und ERDE!

Vielleicht
geschah es einem von ihnen dann,
dass es den Spaß verlor an diesem arglosen Spiel,
weil es plötzlich aus der einfachen Sichtweise fiel und einen
riesigen Schreck bekam, weil es sich so sonderbar benahm!
Vielleicht
überkam es die Furcht vor der Angst, sich zu verlieren
– sich nicht mehr als Eines zu spüren? –
Und es vergaß dabei für einen Augenblick zu atmen und zu fließen
– vergaß im Vor den Blick zurück – im Fürchten das Genießen! –
Vielleicht
hat der Schreck es eingefroren – vom Selbst hinweg zum
– Nie –
– vom Tautropfen zum Hagelkorn –
vom H( I – I ) zum I-C-H
und
I?


Und
weil
es im Schreck
ganz sicher gehen wollte,
sich ja nicht zu verlieren,
begann es sein Tun
mit zwei winzigen Punkten zu zieren:

Es machte dabei eine Tatsache aus seinem Tun
– ganz unverbindlich und ohne Punktum –
und ohne nach innen zu lauschen:
Die
Täuschung aus dem Vertauschen!

So wuchs ihm die Versuchung
aus dem Versuch
und aus der Versuchung
der Selbstbetrug
!
Ein
schmaler Grad,
der aus der Mitte weicht
– für einen Augenblick zu schief –
– zu schwer – zu leicht –
weil ihn der Zweifel zwischen H und E beschleicht,
ob ihm sein Blick auch weiterhin zum Ganzen reicht!
– wobei sein folgenschweres Wanken –
im Schreck sich eicht
zu ichbezognen
Schranken
– und zum –
Vielleicht
!

So
überlegte
Sonnenauge
und seufzte leise.
Er hätte so gerne
ganz genau gewusst,
warum dieses H zum I umgekippt war!
Er hätte es so gerne gewusst, um es allen sagen zu können,
die sich ebenso ohnmächtig fühlten, wie der König und er sich
dereinst gefühlt hatten, als ihnen dasselbe mit ihrem Teich geschehen war.


Eines
aber glaubte er,
ganz genau zu wissen:

Was dem König, dem Himmel, den Schwarzen Wassertropfen und ihm selber
als kleinem unerfahrenen Tröpfchen in dieser Parabel geschehen war,
wiederholte sich noch jetzt – wiederholte sich in jedem Augenblick
millionenfach aufs Neue zwischen Himmel und Erde!

Dann dachte er wieder an das H und das E, das diesem Himmel und
dieser Erde als – Mehr im Meer – und – Meer im Mehr – vorangegangen
war und noch immer voranging – Tag für Tag – und es fiel ihm noch etwas dazu ein:

Dass es
nämlich tatsächlich
etwas ganz Besonderes war
um dieses E und um dieses H!

Das eine war immer aus dem anderen hervorgegangen
Und keiner wusste, wo es angefangen
dieses Mehr aus dem Meer der Unendlichkeit

das sich zum H – zum Himmel – befreit
und gleichzeitig zur Erde,
damit ein Gleichgewicht
werde.

Ein wunderbares Gleichgewicht
… ein Lächeln zwischen Gesicht und Gesicht …
das sich zum H ausdehnte, weil’s nach dem E sich sehnte!

Das sich, ausatmend, ins Mehr erhob
und sich, einatmend, zusammen schob
vom Mehr zum Meer zurück
… Bescheidenheit im Blick! …

Und
erst, als
der Himmel das Meer vergaß und
die Erde den Himmel, der in ihr saß
als Mehr im Meer zwischen beiden,
da vergaßen sie auch das Bescheiden:
Sie vergaßen den winzigkleinen Strich,
der sie beide verband
– und wurden zum –
Ich!


Das Schäfchen,
das nicht aufgehört hatte, sich leise zu wiegen und zu schaukeln und dabei
alle Erwägungen Sonnenauges aufmerksam aufgefangen und begleitet
hatte, streckte sich wohlig aus und gähnte so hemmungslos,
wie es offenbar seine Gewohnheit war:

‚Lass es soweit gut sein!‘
sollte das heißen:

‚Das Mehr im Meer des Wissens hat
seine Grenzen in den Gedanken
– dort sind seine Schranken! –
Das wahre Spiel
zwischen dem
H und dem E
ist das
Danken!‘

Aber es sagte das nicht. Und so blickte Sonnenauge noch lange
nachdenklich auf den winzigen Querstrich, der im Spiel zwischen dem
Himmel und der Erde aus dem H herausgefallen und zum I geworden war:

Zum – I zwischen I’s – zum
Ich!

Er
würde
diesen ‚Fall‘
im Auge behalten
– das war ihm klar! –
Er würde
diesen weise-weißen
Samen Morgentränes
im Herzen bewahren!
Er würde das Prisma,
das in ihm wohnte,
ganz neu erhellen
zum Licht!
Das schwor
er sich!