Noch einer möchte mit!

Aus dem allgemeinen Schwingen und Tönen hob sich am leuchtendsten der kleine fröhliche Tautropfen hervor, der eben noch so lieb mit seiner Blume gesprochen hatte und nun die Zügel seines Pferdchens gebieterisch neckend in den Händen hielt. Er war so durchsichtig und so voller Licht, als sähe er tatsächlich schon die Sonne auf der anderen Seite der Erde. Kein Wunder, dass auch seine Blume lächelte und sich glücklich hin und her wiegte – als sei sie wirklich ein Schaukelpferd. –
„Hü!“ rief er und noch einmal „hü!“ – und wollte gerade seinem Pferd die Sporen geben, als er mit einem Mal eine zaghafte Stimme vernahm: „Ich möchte auch hinauf zur Sonne! Nehmt mich mit! – bitte, bitte! – nehmt mich mit!“
Es war ein kleiner grauer Wicht, der da rief. Er stand nicht weit von der
Dotterblume entfernt auf einem Stein und streckte seine Arme aus.

Ohne sich erst lange umzusehen,
hielt der Tautropfen sein Pferd an und rief:
„Wer immer Du bist, komm herauf!
Hier ist genug Platz
für zwei!“
„Ich … bin
… gar … nichts … mehr …
und … möchte … zur … Sonne!“
„So komm herauf, Garnichtsmehr!“
„Ich kann nicht klettern!“ kam es zurück.

So ging es hin und her, bis der Tautropfen endlich den unscheinbaren Wicht zwischen den Steinen entdeckte.

Der sah so eigenartig aus, dass der Tropfen seine Verwunderung nicht verbergen konnte und gegen seine Gewohnheit sogar vergaß, Guten Tag! zu sagen.
„Was haben sie Dir denn da angezogen?“ platzte er heraus. „Damit willst Du doch wohl nicht zur Sonne reiten?“
Beschämt sah der Wicht an sich herunter. „Du meinst mein Mäntelchen, nicht wahr?“
sagte er und schaute dabei so ratlos drein, als sei dieser Mantel von eh und je das dunkelste Geheimnis seines Daseins gewesen.
Der Tautropfen betrachtete ihn nochmals eingehend und wiegte dann seinen Kopf bedenklich hin und her:

„Du wirst es ausziehen müssen, dieses Mäntelchen,
wenn Du zu uns hier heraufklettern willst!
Du wirst es ausziehen müssen!
Wirst sehen, wie leicht
es dann geht!“

Der
Mantel des Wichtes

bestand eigentlich nur aus einer grauen Kapuze und zwei riesigen Augenlöchern.
Aber offenbar war er viel zu groß und zu schwer für den Winzling, der irgendwo
darunter steckte, und von dem fast gar nichts zu sehen war.
Da wölbte sich so etwas vor wie ein kleiner runder Bauch, darunter ragten zwei
winzige Füße heraus und an den beiden Seiten des Bauches zwei hauchdünne
Arme und Hände. Das war aber auch schon alles, was zu erkennen war.

… Ja …
und die beiden Augen! Die ließen sich aber nur erahnen!
So tief lagen sie in den Augenlöchern
des Mäntelchens.

„Nun – was ist?“ mahnte der Tautropfen, als der Wicht immer noch
keine Anstalten machte, seinen Mantel auszuziehen. „Du willst mir
doch nicht weismachen, dass sich da unter Deinem Mantel
nicht irgendetwas versteckt, das mir gefallen könnte?
Ein paar krumme Beinchen zum Beispiel,
ein Spitzbubengesicht oder
eine Schnupfennase?“

Aber der Wicht blieb ernst:
„Ich kann diesen Mantel nicht ausziehen!“
sagte er betrübt.

„Du kannst diesen Mantel nicht ausziehen?“
– wiederholte der Tautropfen –

„Willst Du etwa sagen, dass ihn Dir
jemand angeklebt hat?“

Er war nun
doch ein wenig
erschrocken.

„Ich
kann nicht einmal
die Sonne mehr richtig sehen,
seitdem ich diesen Mantel trage!“
antwortete der Wicht.